Page 4 - Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern, November-Ausgabe 2025
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SCHWERPUNKTTHEMA „SUCHT UND DROGEN“
Der Preis des Rausches
Derzeit schauen viele staunend und vielleicht auch ein Natürlich gibt es keinen risi-
bisschen neidisch auf M-V. Das große kleine Bundesland im kofreien Konsum von Dro-
Nordosten hat sich in der gesamten Drogenwissenschaft und gen, aber man kann das Ri-
-welt einen Namen gemacht. Die Zahl der Zuschauer, Leser siko senken. Prof. Johannes
und Hörer von Beiträgen mit oder über drogenbezogene Ak- Buchmann zeigt in seinem
tivitäten in M-V und die Erkenntnisse daraus gehen in die zig Übersichtsartikel über Ab-
Millionen. Wie kommt es dazu? hängigkeit bei ärztlichem
Personal sehr schön, dass
Wir haben ungünstige Konstellationen: der Anteil unserer unser Berufsstand, wie im
Alkoholabhängigen liegt im Spitzenbereich von Deutsch- Übrigen auch Beschäftigte
land, die Gesellschaft überaltert und immer neue Schre- in der gesamten Gesund-
ckensnachrichten stressen uns dauerhaft. Die jüngere Gene- heitsbranche, in hohem
ration hingegen hat die Gefährlichkeit von Alkohol längst Maße gefährdet sind. Auch
erkannt und schwört ihm ab. Wir können (und wollen) je- illegale Drogen nehmen sich Foto: Kristina Becker
doch nicht ohne Rausch. Also muss etwas anderes her: Pil- da nicht aus. Neu ist aller-
len, Koks oder im wahrsten Sinne des Wortes brandaktuell dings die Option, illegale Drogen, die sowieso genommen
Cannabis (ob das dumm macht, klären wir in diesem Heft). werden (ob wir das nun gut finden oder nicht) rechtlich legi-
Da hält auch Strafbarkeit nicht ab. Hielt übrigens noch nie. timiert zu testen. M-V ist derzeit das einzige Bundesland mit
Denn Drogen begleiteten die Menschheit wohl schon von An- eigener Drogentest-Verordnung. Andere Bundesländer hät-
beginn, weit vor der Sesshaftwerdung. Alkohol war jedoch ten das auch gerne. Das macht Festivals sicherer (wir haben
definitiv nicht die erste Droge, schaffte es aber über Tausen- zwei riesige davon, die seit Jahren Millionen von Euro und
de von Jahren zu einer ungeheuren Akzeptanz. Nun leben zahlreiche Touristen ins Land bringen). Man kann flächende-
wir in einer innovativen und leistungsorientierten Konsum- ckend Lehrer schulen, um Schüler aufzuklären (gerade ange-
Gesellschaft, die es als selbstverständlich erachtet, Produk- laufen) und man kann Personal von Einrichtungen mit Opio-
te in hoher Diversifikation auszuwählen. Das reicht von Jo- id-Abhängigen in der selbstständigen Gabe des lebensret-
ghurt-Sorten über Automarken bis zu Bieren. Da ist die Frage tenden Naloxon-Nasensprays schulen (dieses Jahr MV-weit
doch zumindest konsequent, warum denn eigentlich alleinig ausgerollt). Man kann Ärzte und Therapeuten gut ausbilden,
Alkohol als Droge erlaubt sein soll. damit all den Patienten geholfen werden kann, deren Leben
aus dem Ruder gelaufen ist und die sich dann mit exzellenter
Vielleicht haben wir allzu leichtgläubig dem Alkohol ver- Therapie aus dem Käfig der Abhängigkeit befreien können.
traut. Und ganz bestimmt haben wir (und da schließe ich Die Autorinnen und Autoren in diesem Heft stehen beispiel-
mich explizit nicht aus) mit voller Inbrunst Vorurteile gegen haft für diese Exzellenz. Ihnen gilt besonderer Dank!
andere Drogen allzu lange aufrechterhalten, obwohl wir es
hätten besser wissen können. Es gibt nun mal Drogen, die Wir wollen spitze sein - aber bitte nicht beim Drogenkonsum,
zwar verboten, aber deutlich ungefährlicher als Alkohol sind. insbesondere nicht beim Alkohol. In diesem Sinne: Vielleicht
Und man braucht kein Mathematikgenie zu sein, um nach- jetzt zum Ende des Jahres ein bißchen weniger davon und
vollziehen zu können, dass die Umorientierung von einer der dafür ein kleines Mehr an Toleranz und Offenheit für Neues!
tödlichsten Drogen überhaupt (Alkohol) auf eine ziemlich Das bringt Sie und uns alle weiter und macht alles ein biss-
untödliche andere Droge eben die Zahl der Toten senkt. chen einfacher. Bleiben Sie gesund!
Denn die Vermeidung von unnötigen Toten ist ein elementa-
res Mittel, um in einer überalternden Gesellschaft in der End- Dr. Gernot Rücker, Universitätsmedizin Rostock
phase des Lebens die Pflege überhaupt noch gewährleisten
zu können. Nicht nur da zählt jedes Menschenleben und da-
mit auch jeder (potentielle) Helfer.
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