Page 5 - Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern, November-Ausgabe 2025
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SCHWERPUNKTTHEMA „SUCHT UND DROGEN“



      Was braucht es ...






      ... in diesen turbulenten Zeiten, um den suchtkranken   Mit den Beiträgen in diesem Heft des Ärzteblattes beleuchten
      und/oder  suchtgefährdeten  Menschen,  egal welchen Al-  wir unterschiedliche, sehr wichtige Bereiche des Drogenkon-
      ters, welchen Drogenkonsums oder welcher Herkunft ge-  sums, wobei es nach Ansicht der Unterzeichnenden für das
      recht zu werden? Was brauchen die Betroffenen, was die   Verständnis der Sucht und die Behandlung keine große Rele-
      Helfenden?                                           vanz hat, ob die Droge legal oder illegal ist. Wir hoffen, dass es
                                                           dazu beiträgt, eine andere, offenere Einstellung und Wahr-
                                                           nehmung den Betroffenen gegenüber zu finden.
      Zunächst möchte ich Ihnen unsere Arbeitsgemeinschaft (AG)   Suchtentwicklung ist ein Prozess, der sich in vielen Metabolis-
      Rauschmittel und Drogenabhängigkeit vorstellen, die nach   men des Organismus‘ widerspiegelt. Das Gehirn ist metabo-
      der letzten Kammerwahl 2022 durch den Vorstand der Ärzte-  lisch gesehen eines der aktivsten Organe des Körpers, daher
      kammer M-V berufen wurde.                            auch sehr empfänglich für Funktionsstörungen. Neuronale
      Es sind ärztliche Kollegen aus den Fachgebieten Allgemein-  Anpassung (Plastizität) ist die Fähigkeit des Gehirns, sich
      medizin und Nervenheilkunde. Alle Mitglieder haben die Zu-  strukturell und funktionell als Reaktion auf Erfahrungen und
      satzqualifikation  suchtmedizinische  Grundversorgung.  Die   Umwelteinflüsse zu verändern und neu zu organisieren.
      Älteren von ihnen sind mehr als 20 Jahre in der Suchtmedizin   Forschungsergebnisse belegen neuronale Veränderungen im
      tätig (gewesen). Es beginnt auch hier der Generationswechsel   Gehirn auf verschiedenen Ebenen. Das sind die genetische Va-
      mit allmählicher Übergabe des Staffelstabes an die jüngeren   rianz und die Transkription zur Herstellung von Proteinen im
      Ärztinnen und Ärzte.                                 Zellkern. Alkohol kann z. B.im Gehirn bestimmte Proteinvari-
      Ein Gremium fachlicher Arbeit - Beratung, Information und Dis-  anten beeinflussen, die die Anfälligkeit für Alkohol erhöhen.
      kussion - zum Thema Sucht gibt es bereits seit 2001, vorher un-  Zum anderen ist BDNF (Brain-Derived Neurotropic Factor) ein
      ter einem anderen Namen. Bis 2019 wurde jährlich eine Fortbil-  wichtiger Regulator für die synaptische Plastizität, die Grund-
      dung angeboten, um mit der Behandlung Suchtkranker auf den   lage für Lernen, Langzeitgedächtnis und abstraktes Denken.
      aktuellen Stand der Forschung zu gelangen und ein Grundwis-  Akuter, maßvoller Konsum kann den BDNF-Spiegel erhöhen,
      sen zu stofflichen und nicht stofflichen Süchten zu erwerben.   während chronischer und exzessiver Alkoholkonsum den
      Seit 2023 fungieren wir als AG. Da hatte sich einiges verän-  BDNF-Spiegel im Gehirn senkt und die zelluläre Signalgebung
      dert. Eine Fortbildungsreihe konnte im ursprünglichen Sinn   stört. Dies kann zu einer dysregulierten Sucht nach Alkohol
      nicht wieder etabliert werden. Wir suchen derzeit nach ande-  und negativen Auswirkungen auf kognitive Funktionen und
      ren Wegen der Kommunikation, Beratung, Fortbildung und   die Gehirnstruktur führen, da BDNF für die Gesundheit des
      nach Möglichkeiten, das Problem des Drogenkonsums in sei-  Gehirns wichtig ist. Abstinenz kann jedoch zu einer Erholung
      ner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung nicht zu vernachläs-  des BDNF-Spiegels führen. Nur zwei Beispiele für individuelle
      sigen, dabei in der Ärzteschaft mehr Aufmerksamkeit zu ins-  Determinanten, die die Entwicklung einer Sucht nicht von
      tallieren. Ein neuer Aufschlag erfolgt mit einer Veranstaltung   vornherein vorhersehbar macht, die dennoch zeigen, dass
      zur Fortbildungswoche (siehe dazu Seite 278f.) Hinter jedem   eine Abhängigkeitserkrankung nicht einfach eine Charakter-
      Drogenkonsum und hinter jedem auch nichtsubstanzgebun-  oder Willensschwäche ist.
      denen Suchtverhalten steht ein Mensch, eine Geschichte, ein   Wer an einer Suchterkrankung leidet, dessen Gehirn hat sich
      Leben wie bei jeder anderen Krankheit auch.          verändert. Sein Belohnungssystem folgt nicht mehr dem evo-
      Wir Mitglieder der AG haben viele Jahre in der suchtmedizini-  lutionär durchaus sinnvollen Zweck, sondern wurde zweckent-
      schen Versorgung gearbeitet (im Akutkrankenhaus und der   fremdet: Es hat die Sucht gelernt (Suchtgedächtnis).
      Rehabilitation, in Praxen, in Kommissionen u. a. der KV und   Wir alle leben mit dem und durch das Belohnungssystem. Im
      der ÄK als Teil eines Netzwerkes aus medizinischen, sozialen   Rahmen der Suchterkrankung ist es nicht mehr in Balance.
      und behördlichen Instanzen). Wir besitzen einen reichen Er-  Die Abhängigkeit besteht prinzipiell nicht von der Substanz,
      fahrungsschatz und möchten diesen an Interessierte und un-  sondern von der Wirkung, die diese erzielt. Die Fähigkeit zu
      sere Nachfolger weitergeben, neu diskutieren, überprüfen   bewussten Entscheidungen bleibt auch bei Betroffenen erhal-
      und zum Wohle der Hilfesuchenden gebrauchen.         ten. Der Zugang zu diesen Fähigkeiten ist durch Sucht gestört,


      AUSGABE 11/2025 35. JAHRGANG                                                                          Seite 361
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