Page 17 - Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern, Dezember-Ausgabe 2024
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AKTUELLES




      Der  Vergleich  von  Wirbellosen-  und  Wirbeltierzellen  zeigt,   Aus der Vielfalt möglicher Anwendungsbereiche wären zum
      dass die Struktur dieser Moleküle hochgradig  konserviert   Beispiel auch Erkenntnisse aus Neurologie und Psychiatrie
      ist,  was  auf  einen  wichtigen  gemeinsamen  evolutionären   erwähnenswert, denn miRNAs beeinflussen auch unser Ver-
      Prozess in sehr unterschiedlichen Spezies schließen lässt. So   halten und unsere Reaktion auf die Umwelt – zwei Prozesse,
      ist es nicht mehr überraschend, dass in den gleichen Orga-  die bei psychischen Erkrankungen fehlreguliert sind. Kürz-
      nen unterschiedlicher Säugetiere identische miRNA-Typen   lich wurden sogar miRNAs gefunden, die als körpereigenes
      die Modulation der Proteinbiosynthese übernehmen. Die   Antidepressivum wirken oder einen angemessenen Umgang
      Komplexität  wird  dadurch  deutlich,  dass  sich  inzwischen   mit stressigen Situationen ermöglichen. Ein besseres Ver-
      48.800 miRNA-Gensequenzen von 270 Organismen in Daten-  ständnis  der  Funktion  von  miRNAs  wird  helfen,  auch  hier
      banken finden lassen.                                neue Ansätze für Diagnostik und Therapie zu entwickeln.
      Die meisten miRNAs haben sich evolutiv so entwickelt, dass   Und  noch  eine  Überraschung:  miRNAs  sind  zuhauf  in  der
      sie nicht perfekt komplementär zur Target-mRNA sind, wor-  menschlichen Muttermilch vorhanden (und denen bei Rin-
      aus sich schließen lässt, dass sie mehrere Proteinsynthesen   dern, Schafen, Ziegen, Hunden, Katzen, Pferden, Eseln oder
      zeitgleich regulieren könnten. Die Auswahl der mRNA, die   Schweinen extrem ähnlich).
      abgebaut werden kann, hängt nämlich von der Passgenauig-  Sie erreichen die Darmepithelien und sind später sogar im
      keit ab. Je mehr Basen der nur 21 bis 23 Nukleotide umfas-  Blut nachweisbar. Welche Rolle sie im Darm spielen ist eine
      senden miRNA komplementär zur Ziel-mRNA passen, desto   spannende, noch komplett unbeantwortete Frage. Es scheint
      besser funktioniert die jeweilige Repression der Translation.  vorstellbar, dass sich ein Set von miRNAs identifizieren lässt,
      Inzwischen ist die potenzielle Rolle von miRNAs in der Pa-  das  die  optimale  Darmreifung  unterstützen  hilft,  etwa  bei
      thogenese verschiedener Erkrankungen wie Epilepsie, Glio-  Frühgeborenen oder immunologisch beeinträchtigten Babys.
      blastom,  Brustkrebs,  Bronchialkarzinom,  Leukämien  und
      vielen anderen Tumoren hervorgehoben worden. Je nach-  miRNA-Therapie
      dem, welche mRNA sie beeinflussen, können miRNA die
        Tumorgenese begünstigen oder erschweren. Zahlreiche   Auch die Medikamentenentwicklung läuft auf Hochtouren.
      miRNA-Gene liegen auf Chromosomenabschnitten, die bei   Hier nur einige Beispiele für die Hemmung bestimmter
      Tumoren deletiert bzw. amplifiziert werden.          miRNA: miRNA17-Inhibitoren zur Behandlung polyzystischer
      Aber auch Mutationen in Genen, die für miRNA codieren,   Nierenerkrankungen, miRNA122-Inhibitoren zur Behandlung
      wurden beim Menschen gefunden und verursachen Krank-  von  HCV-Infektionen,  miRNA92a-Inhibitoren  zur  Stimulie-
      heiten wie angeborene Schwerhörigkeit, Augen- und Skelett-  rung der Gefäßneubildung nach Herzinfarkt.
      erkrankungen. Neuere Forschungen zeigen, dass bestimmte   Es gibt aber auch erste (patentierte) miRNA-Medikamente:
      miRNAs für die Aufrechterhaltung der Pluripotenz von em-  miRNA34a  als  speziell  Folat-modifizierte  Version  kann  im
      bryonalen Stammzellen wichtig sind, so dass diese in Zukunft   Mausmodell über Folat-Rezeptoren (die auf Tumorzellen
      nützliche molekularbiologische Werkzeuge für die Manipula-  überexprimiert sind) in diese eingeschleust werden und dort
      tion von Stammzellen darstellen könnten.             den Mangel an miRNA34a kompensieren, das heißt, die Zell-
                                                           teilung verlangsamen.
      miRNA als Biomarker                                  Zugelassene Medikamente gegen ausgewählte miRNAs oder

                                                           miRNAs als Therapeutika gibt es allerdings noch nicht. Es ist
      Interessant an miRNAs ist auch, dass sie nicht nur in der Zelle   ein nicht zu unterschätzendes Handikap, erst viele mögliche
      wirken, in der sie entstehen. Die Moleküle werden auch sezer-  Nebenwirkungen dieser kleinen miRNA-Schnipsel ausschlie-
      niert und sind in Körperflüssigkeiten wie Blut, Urin und Liquor   ßen zu müssen. Ambros und Ruvkun haben ein neues Fens-
      zu finden. Man kann dort also mit diagnostischer Zielstellung   ter  aufgestoßen, dass uns in  eine verschreckende Vielfalt
      nach miRNA suchen. Die Forschung der vergangenen zehn   blicken  lässt.  Der  Mammutaufgabe,  „dieses  komplizierte
      Jahre hat gezeigt, dass bei sehr vielen Erkrankungen des Men-  Zeug“ aufzudecken, widmen sich längst viele Arbeitsgrup-
      schen eine Veränderung im miRNA-Profil zu finden ist, zum Teil   pen, die durch die Würdigung der miRNA-Forschung mit dem
      schon Jahre vor der klinischen Diagnose. Noch ist das Prinzip   diesjährigen Nobelpreis enormen Auftrieb erhalten.
      aber nicht in der Patientenversorgung angekommen. Es gibt   Wir gratulieren den beiden Preisträgern.
      aber bereits einzelne klinische Studien, die miRNA-Profile zur
      Diagnostik von Lungenkrebs und Brustkrebs einsetzen.                          Prof. Christine Schütt, Greifswald


      AUSGABE 12/2024 34. JAHRGANG                                                                          Seite 445
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