Page 16 - Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern, Dezember-Ausgabe 2024
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AKTUELLES




           preise vergeben und es werden noch viele folgen (der erste   die etwas komisch ausgesehen hätten. Das ist  serendipity
           ging 1901 übrigens an den Deutschen Emil von Behring, die   (wofür es im Deutschen kein Wort gibt), wenn eine zufällige
           bislang einzige deutsche Frau, Christiane Nüsslein-Vollhard,   Beobachtung von etwas ursprünglich gar nicht Gesuchtem
           erhielt ihn 1995).                                   zu einer neuen und überraschenden Erkenntnis führt.
           Gut, mancher Leser wird auch diesen Artikel schnell über-  Dabei haben sie letztlich an jenen Mutanten ein komplett
           blättern. Andere wiederum fragen sich vielleicht vorschnell:   neues physiologisches Prinzip aufgedeckt, von dem bis da-
                                                                hin niemand etwas ahnte.
           Wieso schon wieder RNA?                              Die Erkenntnis daraus: Genregulation erfolgt nicht nur auf
                                                                Genebene im Zellkern, sondern es gibt noch eine zweite
           Erst im vergangenen Jahr wurden Katalin Karikó und Drew   posttranskriptionale im Zytoplasma für das „Fine Tuning“.
           Weissman für ihre wegweisende Forschung zu messengerRNAs   Niemand außer Ambros und Ruvkun interessierte sich für
           mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, die unter anderem die   die missgebildeten Würmer, denn ihre beiden, immerhin in
           extrem schnelle Entwicklung von Coronaimpfstoffen ermög-  Cell erschienen Publikationen im Jahre 1993 fanden wenig
           lichte (Dabei wird in vitro hergestellte mRNA als „Bauanlei-  Resonanz. Man hielt ihre Entdeckung zunächst für eine Be-
           tung“ für ein ausgewähltes Virusoberflächenprotein zur vor-  sonderheit des etablierten Modellorganismus  C. elegans.
           beugenden „Eigenproduktion“ eines Impfantigens in einem   Den Durchbruch brachte erst eine Nature-Veröffentlichung
           noch nicht infizierten Körper verabreicht).          im Jahr 2000, in der sie über miRNA bei verschiedenen
           In diesem Jahr nun ehrt das Nobelpreis-Komitee die beiden     Spezies und beim Menschen berichteten.
           Amerikaner Victor Ambros und Gary Ruvkun für die Entde-
           ckung der bis 1993 komplett unbekannten microRNAs.   Posttranskriptionale Genregulation –
                                                                ein essentielles Regulationsprinzip
           mRNA und miRNA. Wo ist der Unterschied?
                                                                Alle Zellen tragen bekanntlich die komplette genetische In-
           Messenger-RNA (mRNA) transportiert die Information vom   formation in ihrer DNA.
           abgelesenen aktivierten Gen (Transkription) ins Zytoplasma,   Doch um die Vielfalt der Gewebe, Organe und differenzierten
           wo an den Ribosomen die Übersetzung ihrer Basensequenz   Körperfunktionen zu garantieren, dürfen in verschiedenen
           in die Aminosäuresequenz der Proteine erfolgt (Translation).   Zellen schließlich jeweils nur bestimmte Protein-kodierende
           MicroRNA (miRNA) hingegen besteht aus einem sehr kurzen   Gene aktiviert werden, andere müssen stumm bleiben. In
           Strang  von  Nukleotiden,  der  sich  an  ein  komplementäres   den 1960er Jahren wurden tausende Transkriptionsfaktoren
           Stück eben jener mRNA anlagern kann, die daraufhin insta-  identifiziert, die an regulatorische DNA-Sequenzen binden
           bil wird oder zerstört werden kann. Auf diese Weise reguliert   können,  und  in  den  Folgejahren  konnte  geklärt  werden,
           miRNA  außerhalb  des  Zellkerns,  wie  viel  von  einem  be-  wann warum und wie daraufhin selektiv welche mRNAs pro-
           stimmten Protein hergestellt werden kann.            duziert werden können. Die Frage, warum spezielle Pro-
                                                                teine-Sets nur in Nervenzellen aber nicht im Darmepithel
           Mutierte Fadenwürmer und ein Zufallsbefund           und wiederum andere nur in Herzmuskelzellen produziert
                                                                werden, schien beantwortet.
           Die beiden Laureaten sind als Postdocs zufällig auf ihre große   Weil die Laureaten aufdeckten, dass das ein Irrtum war, ent-
           Entdeckung gestoßen als sie um 1985 am Massachussets Insti-  schied das Preis-Komitee, diese Arbeiten 2024 mit dem
           tute of Technology im Labor von Robert Horvitz arbeiteten. Dort     Nobelpreis für Medizin und Physiologie zu würdigen. Die
           wurden an dem nur einen Millimeter langen Fadenwurm Cae-    Begründung: Die neu entdeckte Genregulation sei seit hun-
           norhabditis elegans (der wegen seiner kurzen Reproduktions-  derten Millionen Jahren existent. Der Mechanismus habe die
           zeit,  seiner  Durchsichtigkeit  und  der  leichten  genetischen   Evolution von  immer komplexeren Organismen ermöglicht.
           Manipulierbarkeit  zum  Lieblingslabortier  avancierte)  seit   Heute weiß man, dass das menschliche Genom Kodierungen
           Jahrzehnten grundsätzliche Fragen zu Zellteilung, Zelldiffe-  für über 1.800 miRNAs enthält. Die komplizierten molekula-
           renzierung, Zelltod oder Organentwicklung und deren gene-  ren Abläufe von der Transkription bis hin zu reifen miRNA-
           tischen Regulationen untersucht (wofür Horvitz 2002 einen   Schnipseln im Zytoplasma und der Formation von RNA-indu-
           Nobelpreis erhielt). Aus wissenschaftlicher Neugier und ohne   ced silencing complexes (RISCs) sind bereits detailliert er-
           spezifisches Ziel hätten sie sich Fadenwürmer angeschaut,   forscht.


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