Page 26 - Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern, November-Ausgabe 2025
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           Abhängigkeitserkankungen bei Ärzten                                                       *




           Hintergrund und vorhandene Daten                     Bevölkerung über die Risiken und Behandlungsmöglichkeiten
                                                                von Substanzkonsumstörungen nicht von diesen befreit. Be-
           Suchterkrankungen zählen zu den häufigsten psychiatrischen   reits im Jahr 1869 beklagte Sir James Paget Suchterkrankun-
           Erkrankungen (Rummel C, Raiser P et al. 2024). Die Nikotin-   gen bei seinen Medizinstudenten mit einer Prävalenz von 0,5 %,
           und Alkoholabhängigkeit zählt weltweit zu den führenden   kurze Zeit später machte William Osler die Beobachtung, dass
           Ursachen für Mortalität, Morbidität und bleibende Behinde-  Ärzte einen hohen Morphingebrauch betreiben (Osler W, Bar-
           rung (Rauschert, Mockl et al. 2022). Die Gruppe der helfenden   nes P et al. 1892). Nach Angaben der Bundesärztekammer ist
           Berufe, darunter Psychotherapeuten und Ärzte, ist diesbezüg-  davon auszugehen, dass Ärzte aufgrund berufsbedingter psy-
           lich einem besonderen Risiko ausgesetzt. Die Punktprävalenz   chischer und physischer Belastung häufiger eine Substanzkon-
           wird für die USA mit 2-3,8 % angegeben (Hirsch JA, Mandel S   sumsstörung entwickeln, die Lebenszeitprävalenz liegt vermut-
           et al. 2023). Die Gründe liegen in der relativ leichten Zugäng-  lich bei 7-8 % im Vergleich zu 5-6 % in der Allgemeinbevölke-
           lichkeit und Vertrautheit mit psychotropen Substanzen, dazu   rung (https://www.bundesaerztekammer.de/themen/aerzte/
           kommen Leistungsdruck, ungünstige Arbeitszeiten, Umgang   public-health/suchtmedizin/suchterkranke-aerzte).
           mit hoher Verantwortung und burn-out-Phänomene, die eine   Die wichtigsten stoffgebundenen Süchte sind die Alkoholab-
           Suchtmittelproblematik befördern können.             hängigkeit, der Medikamentenmissbrauch (Anästhetika,
           Ein Abhängigkeitssyndrom ist gekennzeichnet durch physi-  Benzodiazepine) und die Nikotinabhängigkeit. Die Diagnos-
           sche und psychische Symptome des angewiesenen Seins auf   tik einer Abhängigkeitserkrankung bei Ärzten kann sehr
           bestimmte Substanzen, wobei das ICD-11 auch nicht subs-  komplex sein. Hierzu tragen psychologische Faktoren wie
           tanzgebundene Abhängigkeiten wie Computerspielsucht, pa-  der Wechsel in die Patientenrolle, Schamgefühle, Insuffizienz-
           thologisches  Glücksspiel  und  zwanghaftes  Sexualverhalten   erleben, Angst vor Stigmatisierung und vor rechtlichen Kon-
           als Abhängigkeitserkrankung anerkennt und den Verhaltens-  sequenzen, die bis zum Entzug der Approbation gehen kön-
           süchten (disorder due to addictive behaviors) zuordnet. Im   nen. Dazu gilt es als Tabuthema, die eigene Sucht zu proble-
           DSM 5 werden im Gegensatz zu ICD-10 und -11 sowohl stoffge-  matisieren.
           bundene als auch nichtstoffgebundene Störungen wie Spiel-  Zum  Screening  werden  häufiger  der  Lübecker  Alkoholismus
           sucht, Internetsucht, Essstörungen, Sexsucht und Arbeits-  Screeningtest und/oder der AUDIT (alcohol use disorder identi-
           sucht unter den Begriff der Substanzgebrauchsstörung (sub-  fication test (Ewing 1984, Ewing 1998) eingesetzt, insbesondere
           stance    use  disorder)  zusammengefasst.  Dabei  wird  nicht   die Kurzform AUDIT-C, die nur aus 3 Fragen besteht (Tab. 1).
           mehr  differenziert  zwischen  Missbrauch  (substance  abuse)
           und Abhängigkeit (substance dependence), sondern zwischen   Der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkohol-
           leichter, moderater und schwerer Substanzgebrauchstörung.  bezogener Störungen“ (https://register.awmf.org/de/leitlinien/
           Auch Ärzte sind trotz ihres Wissensvorsprungs gegenüber der   detail/076-001) folgend werden unterschieden:


           *   Diesem Artikel wesentlich zugrunde liegt die Publikation von A. Brandi, L. Winter, A. Glahn, K.G. Kahl in der Zeitschrift der Nervenarzt 1, 2020, S. 77-88.


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