Page 32 - Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern, November-Ausgabe 2025
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SCHWERPUNKTTHEMA „SUCHT UND DROGEN“
Benzodiazepine – Historie, Einsatzgebiete
und ärztliche Herausforderungen im
Umgang mit Abhängigkeiten
Historische Entwicklung und medizinische ein trächtigungen, die bis zur so genannten „Scheindemenz“
Einsatzgebiete führen können.
Benzodiazepine wurden erstmals in den 1950er Jahren ent- Aktuelle Situation zur Suchtproblematik und
wickelt und 1960 unter dem Namen Librium® zugelassen. statistische Daten
Leo Sternbach entdeckte den Wirkstoff Chlordiazepoxid
eher zufällig während der Entwicklung neuer Farbstoffe. Es Die Suchtrisiken von Benzodiazepinen sind seit Langem be-
zeigte sich, dass die neue Verbindung im Tierversuch angst- kannt und stellen eine bedeutende Herausforderung im Ge-
lösende und beruhigende Effekte hatte. sundheitswesen dar. Schätzungen gehen davon aus, dass in
Rasch wurden Benzodiazepine zu einem der am häufigsten Deutschland zwischen 1,4 und 1,9 Millionen Menschen von
eingesetzten Psychopharmaka. Ihre Einführung revolu- Medikamenten abhängig sind, dabei soll die Mehrheit eine
tionierte die Behandlung von Angststörungen, Schlaflosig- Abhängigkeit von Benzodiazepinen aufweisen. Weitere 1,7
keit, Muskelspasmen und epileptischen Anfällen. Charakte- Millionen gelten als mittel- bis hochgradig gefährdet, eine
ristisch für Benzodiazepine ist ihre breite Einsetzbarkeit: sie Abhängigkeit zu entwickeln. Statistisch gesehen begegnet
wirken anxiolytisch, hypnotisch, muskelrelaxierend, anti- damit jeder Arzt mindestens einmal täglich einem manifest
konvulsiv und amnestisch. Dies macht sie zu einem viel- abhängigen oder akut gefährdeten Patienten. Besonders be-
seitigen therapeutischen Werkzeug bei akuten Angstsituati- troffen sind Frauen ab dem 40. Lebensjahr.
onen, Panikattacken, Muskelkrämpfen sowie epileptischen Typische Symptome einer Benzodiazepinabhängigkeit um-
Anfällen. fassen sowohl psychische Beschwerden wie Angst, Unruhe,
Allerdings führte die breite Indikationsstellung dazu, dass Konzentrationsstörungen, Erschöpfung und depressive Ver-
Benzodiazepine auch bei unspezifischen Beschwerden wie stimmungen als auch unspezifische somatische Symptome
chronischen Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit, psychi- wie Schwindel, Herzrasen oder diffuse Schmerzen ohne or-
schen Stresssymptomen und Lustlosigkeit verordnet wur- ganische Ursache. Eine frühzeitige Ansprache des schädi-
den. Diese Erweiterung der Einsatzgebiete ohne eindeutige genden Medikamentenkonsums kann schon positive Verhal-
Diagnose sowie die fehlende Berücksichtigung alternativer tensänderungen herbeiführen. Die Therapie einer Benzodia-
Therapien trugen oftmals zur Chronifizierung der eigentlich zepinabhängigkeit sollte daher von erfahrenen Psychiatern
zugrundeliegenden individuellen Probleme bei und begüns- oder Suchtmedizinern begleitet werden, da insbesondere
tigten gleichzeitig oft eine unkritische Langzeitanwendung. bei abruptem Absetzen oder hoher Dosierung Gefahr von
Kindern, Jugendlichen und betagten Menschen sollten Ben- Grand-mal-Anfällen oder komplizierten Entzugserscheinun-
zodiazepine grundsätzlich nicht langfristig verordnet wer- gen besteht.
den, die Indikationen dazu sollten noch strenger als üblich Ein besonderes Augenmerk gilt Patienten mit Mehrfachab-
geprüft werden. Ausnahmen bestehen zum Beispiel in der hängigkeiten oder substituierten Patienten, bei denen eine
Behandlung bestimmter Epilepsieformen im Kindesalter. Verordnung von Benzodiazepinen nur bei strengster Indika-
Die Erkenntnis, dass durch einen Dauergebrauch nicht nur tionsstellung durch den erfahrenen substituierenden Arzt
Wirkverlust eintreten kann, sondern auch Nebenwirkungen erfolgen sollte. Erschwert wird die Behandlung der Medika-
wie Gedächtnis- und Koordinationsstörungen, Muskelschwä- mentenabhängigkeit durch ein bundesweit nicht ausrei-
che und emotionale Abflachung auftreten, führte zu einer chendes Angebot an spezialisierten stationären Einrichtun-
vorsichtigeren und kritischeren Verordnungspraxis. Ins- gen. Eine Entgiftung erfordert gerade bei Benzodiazepinab-
besondere bei älteren Patienten besteht die Gefahr der hängigkeiten oftmals primär einen stationären Aufenthalt,
Wirkstoffanreicherung mit Sturzrisiko und kognitiven Be - die Entwöhnung kann dann ambulant erfolgen.
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